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Als es begann


Als es begann, starrte ich auf ihre Hände. Sanfte Hände, die doch schon so viel vom Leben gesehen hatten und ganze Welten darstellen und verändern konnten. Mit jeder Fingerbewegung zog sie mich mehr in ihre Welt. Aber nicht nur ihre Finger, auch ihre Augen sprachen. Alles Glück, alles Leid, jede Krankheit dieser Welt schienen sich in ihnen wiederzuspiegeln.
Langsam begann ich das gesamte Bild aufzunehmen. Nicht länger nur die Hände oder nur die Augen - beides zugleich ergab ein Bild, das so viel mehr sagte als jedes gesprochene Wort es je könnte.
Sie sprach lautlos und zog mich mit jedem ungesagten Wort mehr in ihre Welt hinein. Ihre Worte kamen nicht über ihre Lippen - ihre Worte wurden von ihren Händen geformt, wohl gezeichnet und im selben Augenblick auch schon wieder unwahr. Hastig, beinahe rasend flogen sie durch die Luft. Meine Augen ihnen nach - verloren... Ruhig gab ich ihr zu verstehen, dass ich ihr so schnell nicht folgen konnte. Sie lächelte, nickte und begann erneut zu erzählen. Sie sprach von Kindern, die nicht hören, aber doch so viel vom Leben erwarten. Von Erwachsenen, die mit ihrem Schicksal hadern, weil es ihnen die Ohren nahm. Und von beiden zu gleich, die mit dem Glitzern in ihren Augen so viel mehr sagen können als jeder andere Mensch mit Worten.
Dann nahm sie mich mit in ihre Welt. Türen öffneten und schlossen sich. Fremd war mir die Umgebung. Treppen wurden von uns erklommen und eine letzte schwere Tür geöffnet. Wir standen in einem langen Flur, der nur auf der linken Seite weitere Türen hatte. Ihnen gegenüberliegend befanden sich Fenster, die so hoch angesetzt waren, dass man unmöglich hinaussehen konnte - es sei denn, man wollte in den Himmel schauen. Unter den Fenstern standen Bänke und ein paar Schränke. Fotos verzierten die Wand. Vor einem blieb sie stehen. Endlose Trauer spiegelte sich in ihrem Blick. "Er hat uns verlassen. Dabei hätte er noch so vieles so gerne getan. Er war ein lieber Junge..." erzählte sie mir leise. Ruckartig wandte sie sich ab und schob mich durch eine Tür in einen Raum. Vor mir saßen 2 Frauen und 3 Kinder, aber keiner hob den Blick um zu sehen, wer dort kam. Verwundert schaute ich mich um. Zu spät realisierte ich, dass an diesem Ort eine sich öffnende Tür nicht wahrgenommen wurde - es sei denn, man sah sie. Gehört wurde mein Eintreten nicht. Zumindest nicht von den Kindern. Die Erwachsenen ignorierten es. So stellte sich mir die Frage, wie sollte ich Aufmerksamkeit erregen? Wie sollte ich mich bemerkbar machen und mich vorstellen? Das übernahm sie aber. Gekonnt manövrierte sie mich inmitten der Gruppe und begann mich mit Lauten und Gesen vorzustellen. Für die Laute war ich ihr sehr dankbar, denn ohne hätte ich mich nur noch mehr ausgeschlossen gefühlt.
Was wollte ich überhaupt in einer Welt, in der ich niemanden verstehen würde? Wie sollte ich mit den Menschen reden? Und würde ich es überhaupt schaffen hier Kontakte zu knüpfen? All diese Zweifel waren wertlos. Wahrscheinlich werde ich nie wieder so offenen Menschen begegnen, die sich solche Mühe geben, mich mit einzubeziehen.
Kaum war die Vorstellung beendet, begann mein erstes Spiel und ich lernte meine ersten Gebärden. Der Tag verflog nur so und ich kehrte mit vielen neuen Eindrücken nach Hause zurück. Von da an war jeder Tag ein Erlebnis. Jeder Tag brachte mir neue Vokabeln und Möglichkeiten, die Menschen kennen zu lernen.

Eine Erinnerung blieb mir am stärksten im Gedächtnis.
Ein kleiner Junge im Rollstuhl - gehörlos. Wir besuchten den Zoo und betrachteten Knut, den Eisbären. Schon Tage vorher schimmerten seine Augen, wenn man von Knut sprach. Als er ihn dann sah, kannte seine Begeisterung keine Grenzen. Fluchtartig stand er aus dem Rolli auf, lief zum Gehege und wäre wohl noch weiter gerannt, hätten ihn seine Beine nicht gebremst. Da saß er nun. Weiterlaufen konnte er nicht. Völlig hilflos wirkte er. Doch seine Augen strahlten - er hatte Knut gesehen!